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Titel
Mütter Ohne Grenzen. Paradoxien Verberuflichter Sorgearbeit am Beispiel der SOS-Kinderdörfer


Autor(en)
Speck, Sarah
Reihe
Geschlecht und Gesellschaft
Erschienen
Wiesbaden 2014: Springer VS
Anzahl Seiten
X, 263 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Petra Schmidt, Institut Volkskunde/Europäische Ethnologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Was bedeutet der Status der guten Hausfrau und Mutter heute – ist es ein Beruf oder gilt es immer als natürliche Bestimmung der Frau jenseits eines Arbeitsbegriffs? In Manhattan jedenfalls gibt es Banker, die ihren Frauen Boni für Erfolge bei der Haushaltsführung und Kindererziehung zahlen1. Die im Springer-Verlag erschienene Dissertation von Sarah Speck befasst sich mit dieser fließenden Grenze zwischen Professionalisierung und Naturalisierung von Mutterschaft. Unter dem Titel „Mütter ohne Grenzen“ untersucht sie anhand eines auf den ersten Blick ungewöhnlichen Beispiels – der SOS-Kinderdorfmutter – die Verberuflichung von Mutterschaft und fragt: Nach welcher Vorlage wird gute Mutterschaft von SOS-Kinderdorf in ein Berufsbild modelliert, wie übersetzen die Frauen den Beruf Mutter und wie exportiert SOS-Kinderdorf seine Vorstellungen von guter Mutterschaft weltweit? Im Zentrum der Forschung steht dabei die Widersprüchlichkeit, die dem Berufsbild „Mutter“ inhärent ist: „Mütterlichkeit wird einerseits als natürlich erklärt und gleichzeitig zu einer durch Expertise zu erlernenden Fähigkeit deklariert“ (S. 67).

Die Forschungsfragen werden aus einer kultursoziologischen und geschlechtertheoretischen Perspektive bearbeitet. Aus dieser leitet sich auch das theoretische Verständnis von Kultur, Praxis, Macht und Differenz ab (S. 26–31). Zentral in der qualitativen Studie sind die fallrekonstruktiven Auswertungen von Interviews mit Kinderdorfmüttern. Mit Hilfe einer „Multi-Sited Ethnography“2 verfolgt die Autorin den Export von „guter“ Mutterschaft und begibt sich auf die „Reise“ des Deutungsmusters Mutterschaft (S. 21).

Die Argumentation entfaltet sich durch drei schlüssig aufeinander aufbauende Kapitel, die gerahmt sind von einer Einführung, dem Forschungsdesign sowie Hintergrundinformationen zur Datenerhebung und dem Sample.

Im ersten Teil wird zunächst aus kulturhistorischer Perspektive die Genese und kulturelle Semantik von Mutterschaft in der bürgerlichen Gesellschaft nachgezeichnet. Die Autorin macht kenntlich, dass Mutterschaft und deren inhärente Sorge- und Erziehungsarbeit seit dem 18. Jahrhundert durch einen medizinischen, pädagogischen und psychologischen Diskurs geprägt ist und „[…] in der alltagsweltlichen Semantik als ahistorische, objektiv-universelle Tatsache, als biologisches Programm und genetische Notwendigkeit [erscheint]“ (S. 68). Durch den Diskurs wurde Mutterschaft einerseits in einem fortwährenden Prozess essentialisiert und naturalisiert und gleichzeitig im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zunehmend verwissenschaftlicht und professionalisiert. Speck sieht darin „verborgene Paradoxien“ (S. 65) von Mutterschaft verwurzelt: „Sie soll emotionale und affektive Arbeit, Pflege und Fürsorge leisten. Zugleich soll sie die Familie in einen effizienten Betrieb umformen, der den Geboten von Rationalität und Produktivität gehorcht“ (S. 68).

Vor diesem semantischen Hintergrund betrachtet Speck zunächst internationale (Mütter-) Handbücher von SOS-Kinderdorf und zeichnet nach, wie darin gute Mutterschaft in einen Beruf übersetzt wird (S. 69). Speck zeigt auf, dass die kulturelle Vorstellung von der „Familie als Reich der Frau“ von SOS-Kinderdorf fortgeschrieben (S. 69) und der Beruf „Mutter“ als „kompletter Lebensentwurf“ beworben wird. SOS-Kinderdorf rekurriert bei der Konstruktion des Berufsbildes sowohl auf ältere, religiöse Semantiken von Mutterschaft (etwa wenn von der Berufung zum höheren Dienst am Menschen gesprochen oder Selbstaufopferung erwartet wird, S. 96) als auch auf das zeitgenössische Gebot an Frauen, sich durch Arbeit selbst zu verwirklichen und zu subjektivieren3. Speck versteht dies als Methode, das hohe Maß an zeitlicher, räumlicher und emotionaler Entgrenzung innerhalb des Berufsbildes der SOS-Kinderdorfmutter zu plausibilisieren.

Im zweiten Teil, der Feldforschung, gibt die Autorin Einblicke in die Problemfelder der befragten Frauen und der Organisation. Sie zeigt auf, welche Strategien die Kinderdorf-Mütter nutzen, um gute Mutterschaft in einen Beruf zu übersetzen (S. 101–221). Dafür reiste die Autorin zunächst nach Bolivien und anschließend nach Österreich in SOS-Kinderdörfer, führte dort Interviews durch und nahm am „Dorf“-Alltag teil. Diese Darstellung der empirischen Erhebung ist vor allem analytisch stark. Auf Grundlage ihres Datenmaterials entwickelte Speck die Analysekategorien: „Selbstverständnis, Konflikte und Deutungsstrategien“ (vgl. S.104–106), durch die die individuelle Aushandlung zu einem mütterlichen Selbstverständnis tiefenscharf beleuchtet wird. Die drei Analysekategorien stellen gewissermaßen die Sollbruchstellen dar, an denen der immanente Antagonismus von Naturalisierung und Professionalisierung und das hohe Maß der Entgrenzung des Berufsbildes Mutter gelingend oder misslingend von den Dorfmüttern umgesetzt wird. Für Bolivien arbeitet Speck vier Selbstverständnis-Typen heraus, die im Kontext „kollektiver, praxisanleitender Wissensformationen, dem Organisationsdiskurs sowie der soziokulturellen Herkunft und der aktuellen sozialen Position“ (S. 148) betrachtet werden: die Selbstverwirklichte, die Selbstbestimmte, die Professionelle und die Empleada (die Hausangestellte mit ethnischem Hintergrund) (S. 106–136).

Diesen Typen werden anschließend die institutionellen Strategien von SOS-Kinderdorf (Bolivien), Mutterschaft in einen Beruf zu transformieren, gegenübergestellt. Hierfür wird das „Ausbildungs-Epizentrum“ für angehende Dorfmütter, die Mütterschulen beschrieben, in denen die Einweisung und auch Indoktrination zur „Mutter“ von SOS-Kinderdorf stattfindet. Speck stellt – unter Bezugnahme auf Foucault4 – kritisch fest: Um eine langfristige Bindung der Frauen an die Organisation und eine maximale Identifikation mit dem Berufsbild der Kinderdorfmutter zu erzielen sowie inhärente Widersprüche (Naturalisierung – Professionalisierung) des Berufsbildes zu integrieren wird auf kontrollierende und disziplinierende Maßnahmen zurückgegriffen, die tief in die Privat- und Intimsphäre der Frauen dringen (S. 152–171).

Kontrastierend dazu folgt die Darstellung der Feldforschung in Österreich. Auch hier fragte Speck danach, welche Strategien die Frauen entwickeln, um den Berufsanforderungen gerecht zu werden, und arbeitet drei Typen mütterlichen Selbstverständnisses heraus: Die „ganz normale Mutter“, die Professionelle und die Selbstverwirklichte. Auch sie sind mit virulenten Konfliktlagen, wie z.B. dem Verhältnis sozialer versus leiblicher Mutterschaft, Selbstbestimmung versus Selbstaufopferung, Arbeit versus Leben, konfrontiert (S. 195–209). Doch sind alle drei Typen stärker als in Bolivien in Selbstbestimmungsdiskurse eingebunden. Dies spiegelt sich insbesondere im neuartigen Selbstverständnis der „Selbstverwirklichten“ wider, die es als einziger Typus wirklich schafft, immanente Paradoxien des Berufsbildes in ihrer Identitätskonstruktion miteinander zu vereinbaren, indem sie „auf den Diskurs der Subjektivierung der Arbeit zurückgreift bzw. in individuelle Praxis umsetzt“ (S. 214).

Ebenso wie in Bolivien hat auch SOS-Kinderdorf in Österreich Probleme, Frauen zu rekrutieren und diese langfristig an die Organisation zu binden, wenngleich Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen in Österreich sukzessive abgebaut werden. Dennoch scheinen immer weniger Frauen bereit, in ein derart entgrenztes, paradoxes und aufopferungsvolles Arbeitsverhältnis zu treten, weshalb in Österreich das Berufsbild SOS-Kinderdorfmutter zunehmend zur professionellen SOS-Betreuerin/Erzieherin transformiert (wird).

Der dritte Teil bettet die Ergebnisse der drei zentralen Leitfragen in größere Kontexte ein. In Hinblick auf die Frage, wie das kulturelle Deutungsmuster Mutterschaft im Kontext postfordistischer Zeiten in ein Berufsbild übersetzt wird, kommt Speck zu dem Schluss, dass das „[…] Modell Mutterschaft von SOS-Kinderdorf in all seiner Widersprüchlichkeit [Professionalisierung-Naturalisierung] reproduziert [wird]“ (S. 230) und mütterliche Fürsorgearbeit aufgrund ihres hohen Maßes an Entgrenzung als Avantgarde postfordistischer Arbeitsverhältnisse betrachtet werden kann. Die Übersetzung des Berufsbildes in das individuelle Selbstverständnis gelingt je nach soziokulturellen Kontext unterschiedlich, und es zeigte sich, dass die Ausdeutung des Berufsbilds stark von den jeweiligen Handlungsspielräumen, aber auch der Präsenz eines weiblichen Selbstverwirklichungsdiskurses beeinflusst ist (S. 234–239). Abschließend wird der These nachgegangen, ob und wie SOS-Kinderdorf ein westlich geprägtes Mutterschaftsleitbild in differente kulturelle Kontexte übersetzt. Hier zeigen die Ergebnisse, dass die Organisationspraxis Ausdruck postkolonialer Machtverhältnisse ist und eurozentristische Argumentationsfiguren benutzt werden, indem „das ‚eigene’ Wissen … zur Norm gemacht [wird]“ (S. 240).

Mit der Studie ist der Autorin ein dichtes und lesenswertes Werk gelungen, das durch seine klare Sprache und den gut strukturierten Aufbau besticht. Die Einmaligkeit des Beispiels veranschaulicht – über die Organisationsgrenzen hinweg – die alltägliche Verhandlungsproblematik der Entgrenzung mütterlicher Fürsorgearbeit zwischen den Polen von Professionalisierung und Naturalisierung, Affektivität und Effektivität sowie Arbeit und Nichtarbeit in der Spätmoderne. Der Erkenntnisgewinn der Studie für die Geschlechter- und insbesondere für die Mutterschaftsforschung liegt vor allem in den tiefgehenden Einsichten zu Mutterschaftssemantiken sowie deren Bewältigungsstrategien und mütterlichen Identifikationspraktiken. Neben dem wissenschaftlichen und fachinteressierten Publikum der Soziologie, Kulturanthropologie und Geschlechterforschung (Schwerpunkt Familie und Arbeit) ist die Studie auch für Praktiker/innen aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, internationaler Hilfs- und entwicklungspolitischer Organisationen sowie Gender Consultants wertvoll. Gleichermaßen eine Bereicherung ist die Studie für die ethnografische Organisations- und Unternehmensforschung.

Anmerkungen:
1 Vgl. Maren Hoffmann, Wo Männer ihren Frauen Boni zahlen, in: SPIEGEL Online, 19.05.2015, <http://www.spiegel.de/karriere/ausland/hausfrauen-bonus-anthropologin-ueber-reiche-in-manhattan-a-1034508.html> (09.06.2015).
2 George E. Marcus, Ethnography through Thick and Thin, New Jersey 1998.
3 G. Günther Voß, Subjektivierung von Arbeit und Arbeitskraft. Die Zukunft der Beruflichkeit und die Dimension Gender als Beispiel, in: Brigitte Aulenbach u.a. (Hrsg.), Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft. Forschung im Dialog. Wiesbaden 2007, S. 97–133.
4 vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994 (1. Aufl. 1975).

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/